Kindheitserinnerungen

Laundry List Trait 10: Wir haben die Gefühle, die aus unserer traumatischen Kindheit herrühren, nachhaltig unterdrückt, d. h. wir haben die Fähigkeit verloren, diese Gefühle zu fühlen oder auch auszudrücken, weil es einfach so schmerzhaft ist (Verleugnung).

Eigentlich ist das gar nicht der Trait, den wir derzeit in unserer Gruppe bearbeiten. Irgendwie spüre ich aber dennoch, dass ich diesem Trait langsam näher komme, langsam zu verstehen beginne, was es mit Trait 10 auf sich hat… Dieser Tage fühlte ich mich plötzlich ziemlich traurig. „Mama trinkt, wird ohnmächtig. Das Kind: allein.“ Es geht in etwa um diese Art von Traurigkeit. Und ich trete zur Abwechslung einmal nicht die Flucht an, weder nach vorne noch sonst wohin. Ich bleibe in der Situation, bleibe in diesem Gefühl, ich erlaube mir, diese Traurigkeit in all ihrer Tiefe zu spüren. Ich untersuche das, was ich da fühle, ganz ruhig, fast wie ein Chirurg. Traurigkeit. Traurigkeit darüber, dass man mich alleine gelassen hat.

Blind für die Betrunkenheit anderer

Eine seltsame Sache ist übrigens, dass ich für sehr lange Zeit, quasi während meines gesamten Erwachsenenlebens, buchstäblich blind für Trunkenheit war. Ich konnte nicht wahrnehmen, ob die Person, die mir gegenübersaß, nun betrunken war oder nicht (ok, wenn er oder sie vom Stuhl fiel, dann gab mir das schon zu denken…). Ich konnte es einfach nicht wahrnehmen. Ich dachte die ganze Zeit, dass das irgendwie mit meiner Kindheit zusammenhängen muss. Aber wie genau?

Ganz allmählich, nachdem ich fast drei Jahre lang an ACA-Meetings teilgenommen habe, stelle ich fest, dass ich die Fähigkeit zurückgewinne, die Fähigkeit wahrzunehmen, ob jemand betrunken ist. Nein, tatsächlich setzte die Fähigkeit relativ abrupt wieder ein. Was ich persönlich schmerzhaft finde, wenn ich heute wahrnehme, wie andere betrunken werden, ist nicht so sehr die Tatsache, dass diese Menschen trinken – Erwachsene sind erwachsen, sie sollten selbst am Besten wissen, was sie tun. Worauf ich reagiere, wenn ich sehe, wie sie allmählich betrunken werden, ist, dass ich mich durch ihre Zustandsänderung extrem einsam fühle. Menschen, die sich betrinken, gehen…. sie gehen irgendwie an einen anderen Ort, ins Alcohol Country. Und ich bleibe zurück. Auch wenn sie liebevolle, fürsorgliche Menschen sind: Sobald sie betrunken sind, zählt das alles nicht mehr. Das Einzige, worum sie sich kümmern, ist ihre…. Reise.

Das ist in alles OK. Erwachsene Menschen. Ich bin auch erwachsen. Ich kann weggehen – was ich tatsächlich inzwischen oft mache, einfach die Party verlassen und nach Hause gehen. Ein Spaziergang durch nächtliche Stadt/landschaften ist ein ästhetisch erhebendes Erlebnis. Es gibt mir ein gutes Gefühl. Kein Schaden ist entstanden, für niemandem.

Aber als ich noch ein Kind war? Das war eine völlig andere Situation! Ein Kind kann nicht einfach weggehen, wenn Mama betrunken ist und nicht mehr reagiert. Eigentlich bin ich sogar als Kind mehr als einmal weggegangen, habe mich auf den Weg gemacht, um bei meiner Großmutter Unterschlupf zu finden. Was für eine schreckliche Situation.

Eine Wiederbegegnung mit meinem Inneren Kind

Und all das dämmert mir langsam, dieser Tage, wenn ich beobachte, wie Menschen auf Partys betrunken werden. Es erinnert mich an mich selbst, als ich noch ein Kind war. Oder vielleicht kann man es auch so beschreiben: Es bringt mich in Kontakt mit dem Inneren Kind in mir. Dem Kind, das sich nie erlaubt hat, diese Gefühle von Einsamkeit und Traurigkeit zu spüren. Weil die Situation selbst die gesamte Aufmerksamkeit erforderte, weil es keine Energie gab, um sich mit diesen Gefühlen zu befassen.

Heute geht es mir gut. Ich fühle mich sicher, geliebt, unterstützt. Von meinen Freunden, von meiner ACA-Gruppe. Heute habe ich Menschen in meinem Leben, die sich um mich sorgen, die mich fragen, wie ich mich fühle. Eine ganz neue Erfahrung. Aber warum kommen diese Gefühle von Einsamkeit und Traurigkeit gerade jetzt?

Vielleicht ist das normal. Vielleicht lasse ich meinen Überlebensmodus langsam los, den Modus, der Gefühle abschaltet, Gefühle, die überwältigend, schmerzhaft, bedrohlich sind. Vielleicht habe ich jetzt, da ich mich endlich sehr wohlig fühle, diese zusätzliche Energie, die nötig ist, um alte Gefühle zuzulassen. Gefühle, die mit den schmerzhaften Erfahrungen meiner Vergangenheit verbunden sind.

And the good news…

Und wahrscheinlich ist das auch die gute Nachricht: Diese Gefühle sind mit meinen alten (Kindheits-)Erfahrungen verbunden. Und sie kommen hoch, weil meine Gegenwart glücklich ist, weil ich mich sicher genug fühle, sie zuzulassen. Offensichtlich ist das Erscheinen dieser (Kindheits-)Gefühle ein Zeichen dafür, dass ich etwas richtig gemacht habe. 🙂 Dass eine alte Wunde heilt. 🙂 Dass ich anfange, diese…. schmerzhafte Vergangenheit loszulassen.

Vielleicht ist das Einzige, was ich tun muss, dem Inneren Kind, das ich war, die Ehre zu erweisen. Und ich erweise ihr die Ehre, indem ich die Gefühle anerkenne, die sie hatte: Gefühle der Traurigkeit und der Einsamkeit. Gefühle, die zu fühlen ich mir damals nicht erlauben durfte. Und die zu fühlen ich mir heute erlaube.